24 Aug Tanz der Puppen
von Norman Kietzmann
Alexander Girard (1907-1993) war ein umtriebiger Gestalter, der nicht nur mit Möbeln, Stoffen und Interieurs für Aufsehen sorgte. Er sammelte Volkskunst verschiedenster Kulturen und entwickelte aus deren Farben, Formen und Mustern eine sinnliche Interpretation der Moderne – die nun beim Schweizer Modelabel Akris den Weg auf den Laufsteg fand.
Es kommt eher selten vor, dass Mode von Möbeln inspiriert wird. Doch ab und an ergeben sich solch ungewöhnliche Verbindungen. Legendär ist das weiße Kleid mit rundem, asymmetrischem Hüftausschnitt, das Tom Ford 1996 für Gucci entwarf und damit die ikonischen Liege „La Chaise“ (1948) von Charles & Ray Eames zitierte. Einem anderen amerikanischen Möbel- und Produktdesigner hat das Schweizer Modelabel Akris mit seiner Frühjahr-Sommer-Kollektion 2018 gehuldigt: dem Multitalent Alexander Girard.
Der gebürtige New Yorker (1907-1993) gestaltete nicht nur Möbel und Objekte, sondern richtete Restaurants und Wohnhäuser ein, entwickelte Schriften, Ausstellungen oder ersann die wegweisende Corporate Identity der Fluggesellschaft Braniff. Bei alledem hegte er ebenso eine Sammelleidenschaft für Volkskunst und entwickelte daraus eine ganz eigene Palette an Farben, Formen und Dekoren, die ihn von vielen seiner Zeitgenossen deutlich unterschied. Die Moderne wurde von Alexander Girard nicht als Zurückhaltung oder gar als gestalterischer Verzicht interpretiert. Im Gegenteil: Er setzte auf einen belebenden Stilmix der Kulturen – und weitete so den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus. Genau das macht seine Arbeiten bis heute interessant.
Design war für Alexander Girard vor allem eines: Kommunikation. Als er im Alter von zehn Jahren aufs englische Internat geschickt wurde, erfand er dort ein imaginäres Land, das er „Celestia“ nannte. Er gestaltete Landkarten und Flaggen, ersann Briefmarken fiktiver Sehenswürdigkeiten und entwickelte schließlich verschiedene Geheimsprachen mit jeweils umfangreichem Wortschatz und funktionierender Grammatik. In diese Sprachen weihte er seine Schwester, Freunde und sogar seine Großeltern ein, die fortan mit ihm in Briefform auf diese Weise korrespondierten.
Während seines Architekturstudiums in London signierte Girard seine Skizzen mit geometrischen Zeichen anstatt mit seinem Namen oder seinen Initialen. Nachdem er erste berufliche Erfahrungen in Florenz, Stockholm und Rom gesammelt hatte, kehrte der junge Gestalter 1932 nach New York zurück. Vier Jahre später zog es ihn in die boomende Industriemetropole Detroit, wo er als Chefdesigner für den Radiohersteller Deutrola arbeitete und auf diesem Wege auch Charles und Ray Eames kennenlernte. 1947 eröffnete er in einem leerstehenden Ladenlokal ein Designgeschäft für Möbel und bemalte Dekorationsfiguren aus Holz.
Über 90.000 Objekte trug Girard auf seinen zahlreichen Reisen zusammen, die heute im Museum of International Folk Art in Santa Fe zu sehen sind. Puppen, Masken und Spielzeuge bevölkerten nicht nur sein eigenes Zuhause. Er dekorierte mit ihnen auch das Restaurant „La Fonda del Sol“ in New York sowie seine Büroräume beim Möbelhersteller Herman Miller. Auf Empfehlung von Charles Eames und dem kaum minder einflussreichen Gestalter George Nelson hatte Girard dort die Leitung der Textabteilung übernommen und über 300 verschiedene Stoffe entworfen.
Puppen hat Girard keineswegs nur gesammelt. Er hat sie ebenso selbst gestaltet – aus Holz geschnitzt und mit sinnlichen Farben bemalt. Die meisten „Wooden Dolls“ sind Anfang der Fünfzigerjahre für die Inneneinrichtung von Girards Wohnhaus in Santa Fe entstanden und werden heute von Vitra in Serie produziert. Noch immer werden die hölzernen Korpusse von Hand bemalt, sodass sie durch die feinen Differenzen ihrer Ausprägung eine individuelle Note erhalten. Genau jene Holzfiguren haben nun den Weg auf den Laufsteg gefunden – als Inspiration für die Frühjahr-Sommer-Kollektion des Schweizer Modelabels Akris aus St. Gallen.
Ich habe 2016 die Alexander-Girard-Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein gesehen. Mich hat vor allem sein besonderer Sinn für Farben beeindruckt. Farben, die zart und stark zugleich sind, doch dabei niemals schreien“, schwärmt Akris-Chefdesigner Albert Kriemler. Zweimal kam er nach dem ersten Museumsbesuch zurück, um erneut in die Welt von Girard einzutauchen – und suchte schließlich den Kontakt zu seinen Erben. Das Girard-Studio im kalifornischen Berkeley verwaltet den umfangreichen Nachlass des Multitalents und wird heute von den Enkelkindern Aleishall und Alexander Kori Girard geleitet. Sie haben Albert Kriemler dabei unterstützt, die Entwürfe ihres Großvaters auf die neuen Kleider zu übertragen.
Das Ergebnis ist eine Zeitreise, die nicht danach aussieht. Die Girard-Dekore werden alles andere als plakativ eingesetzt. Sie umspielen die Körper ihrer Trägerinnen, wirken eher abstrakt als figürlich in ihrer starken Vergrößerung. „Wir waren angenehm überrascht, die Arbeiten auf diese Weise zu sehen“, sagt Aleishall Girard nach der Modenschau im Pariser Palais de Tokio, zu der auch ihre Mutter Alexis Girard angereist war. „Albert Kriemler hat sich von vielen Aspekten in der Karriere unseres Großvaters inspirieren lassen wie den Holzfiguren, Skulpturen, Architekturzeichnungen, Malereien, Collagen, um nur einige zu nennen. Seine Interpretation und Anpassung dieser Entwürfe an die Mode ist spannend für uns, weil wir das Potential dieser Arbeiten dafür immer gesehen haben“, erklärt Alexander Kori Girard.
Neben den „Wooden Dolls” werden heute zahlreiche Möbel und Accessoires von Alexander Girard vom deutsch-schweizerischen Möbelhersteller Vitra produziert – wenngleich mit zeitlicher Verzögerung. Drei Jahre nach Girards Tod ist dessen Nachlass 1996 mit mehr als 5.000 Plänen, Zeichnungen, Skizzen, Fotos und Textilmustern an das Vitra Design Museum übergeben worden. Doch erst in den letzten Jahren ist dieser Fundus systematisch aufgearbeitet worden und in Form von Reeditionen wieder auf den Markt gekommen.
Dieser Umstand mag überraschen, da Girard zu den wichtigsten, amerikanischen Gestaltern des 20. Jahrhunderts gehörte. Doch ein Grund dafür mag zweifelsohne seine eigenwillige Interpretation der Moderne sein, die dem Rationalismus europäischer Prägung nur wenig zu tun hatte und erst heute – wo Kunst- und Handarbeit eine ganz neue Wertschätzung entgegengebracht wird – überaus aktuell erscheint. Girard rückt auf diese Weise nicht nur innerhalb der Designszene in den Fokus: Dank der aktuellen Akris-Kollektion findet er ebenso den Weg in unsere Kleiderschränke.
Die Ausstellung „Alexander Girard – A Designer’s Universe“, die Albert Kriemler so stark beeindruckt hatte, ist aktuell noch bis zum 09. September 2018 im Berkeley Art Museum in Kalifornien zu sehen.
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