Einhundert Prozent


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Es klingt wie der Kampf zwischen David und Goliath: Auch wenn Maschinen aus der Mode kaum mehr wegzudenken sind, geht der neapolitanische Schneider Kiton einen anderen Weg. Seit der Firmengründung im Jahr 1968 werden sämtliche Anzüge von Hand gefertigt. Trotz fünfstelliger Preise werden Kiton-Anzüge immer öfter von jüngeren Kunden begehrt – die sich von der Magie des Machens in den Bann ziehen lassen.

Immer wieder zischt und dampft ein Bügeleisen. Leise dringt Musik aus einem Radio in den Raum. Ansonsten ist es auffallend ruhig in dieser Fabrik, in der keine Maschinen den Takt vorgeben. Es ist die menschliche Hand, die Nadel und Faden führt und feinste Stoffe in tragbare Preziosen verwandelt. Dass die Uhren bei Kiton anders ticken, hat durchaus seinen Grund: Weil handgefertigte Nähte im Gegensatz zu Maschinenarbeit leicht flexibel sind, können sich die Sakkos, Hosen und Hemden den Konturen des Körpers anpassen – genau wie eine zweite Haut. Handarbeit bedeutet somit alles andere als ein Verharren in der Tradition. Sie liefert eine Qualität, die Maschinen überhaupt nicht liefern können. Bis zu 40.000 Euro kostet ein Kiton-Anzug, von denen jeder vierte auf Kundenmaß genäht wird. Sämtliche Stoffe werden eigens für den neapolitanischen Edelschneider angefertigt und sind bei keinem anderen Hersteller zu finden. „In der Fertigung gibt es keinen Unterschied zwischen Konfektion und Maßanfertigung. Jedes Kleidungsstück wird zu einhundert Prozent von Hand gefertigt“, bringt Geschäftsführer Antonio De Matteis das Geheimnis seines Unternehmens auf den Punkt. Er ist der Neffe von Ciro Paone, der Kiton 1968 in Neapel gegründet hat. Aus achtzehn Kindern, Neffen, Nichten und Schwiegersöhnen, die für diesen Posten in Frage kamen, hat sich Patron Paone für ihn entschieden.

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Heute arbeiten über 500 Mitarbeiter für das Unternehmen, das seinen untypisch-italienischen Name der griechischen Chiton verdankt, einem in der Antike von Männern und Frauen getragenen Untergewand. Ein Besuch bei Kiton gleicht einer Zeitreise – auch wenn von außen zunächst nur wenig davon zu erahnen ist. Die rosafarbene Halle in einem Industriegebiet von Neapel könnte ebenso als Lagerhaus herhalten. Lediglich der postmoderne Eingangsbereich mag in dieses Bild nicht passen. Edle Hölzer und weißer Marmor empfangen den Besucher im bühnenartigen Foyer, bevor es weiter in das Heiligtum des Unternehmens geht: Die Produktion. Seit 1997 steht dort Salvatore Tranchino stolz vor seinem Tisch und fertigt die Knopflöcher. Sein gelbes Maßband trägt er um den Hals wie einst Johannes Heesters seinen weißen Schal. Mit anmutiger, ruhiger Bewegung nimmt er ein Sakko, zeichnet mit Kreide die Markierungen und schlägt mit einem kleinen Meißel dreimal kräftig zu. Im Anschluss nähen die Frauen die Knopflöcher und befestigen die Knöpfe, die sich – auch dies ein Kiton-Markenzeichen – „küssend“ überlagern.

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Sinnlichkeit und Präzision treffen an diesem Ort zusammen, wo Stoffreste auf keinen gewöhnlichen Industrieboden hinabfallen. Die gesamte Fabrik, die in den frühen neunziger Jahren erbaut wurde, ist vollständig mit Marmor ausgelegt. „Mein Onkel wollte, dass sein Unternehmen anders arbeitet als alle anderen. Darum sitzen die Schneider in Gruppen an großen Tischen zusammen und nicht an einzelnen Nähbänken. Es war ihm wichtig, eine besondere Atmosphäre zu erzeugen“, sagt Antonio De Matteis. Immer wieder finden sich Bilder von Heiligen und Fußballgöttern an den Wänden und Tischen der Fabrik, die von den Mitarbeiter dort befestigt wurden. Sie bilden einen charmanten Gegenpol zu den Landschaftsmalereien des 19. Jahrhunderts und den zahlreichen Pop-Art-Arbeiten aus Ciro Paones Sammlung, die sämtliche Flure und das zentrale Foyer schmücken.

Die Produktion ist bei Kiton nach Typologien unterteilt. In der zentralen Halle werden ausschließlich Anzüge gefertigt. Ein gläserner Gang führt hinüber zu einem weiteren Gebäude, wo das Kreativteam die neuen Kollektionen entwickelt und eine Etage darüber Hemden genäht werden. Die Fertigung der Krawatten und Schuhe erfolgt in einem Nebengebäude, wo Kiton seit 2000 eine eigene Schneiderschule unterhält. „Die meisten Schneider auf der Welt, die heute noch von Hand nähen, sind weit über sechzig Jahre alt. Das Durchschnittsalter unserer Mitarbeiter liegt bei gerade einmal 37 Jahren“, betont Antonio De Matteis. Dass nur ein Drittel der Absolventen übernommen wird und sich die übrigen eine Stelle bei der Konkurrenz suchen, stört ihn nicht. „Wir wissen, dass sie für uns bereit sind, wenn wir sie brauchen“, erklärt der 51-jährige. 30 Prozent mehr Gehalt als jedes andere Modeunternehmen zahlt Kiton seinen Schneidern. Wer einmal dazu gehört, kann sich als Teil einer Familie fühlen. Nur einen einzigen Mitarbeiter musste Antonio De Matteis bisher entlassen, weil dieser Geld entwendet hatte. Ansonsten herrscht Kontinuität im Haus. Ein treffendes Beispiel ist Pasquale Guadagno, der seit 40 Jahren die Schnittformen sämtlicher Sakkos und Hosen anfertigt.

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In einem gläsernen Raum wacht er über die aus Pappe gefertigten Schablonen, die Auskunft über die genauen Körpermaße mach prominenter Kunden geben. Es ist kurz vor zwei Uhr, als zwischen Foyer und Kantine Bewegung aufkommt. Die Schneider und Näherinnen haben bereitsgegessen – und dafür einen symbolischen Euro gezahlt. Nun wird der Führungsebene dasselbe Menü serviert – an einem langen, gedeckten Tisch, der sich durch die gesamte Breite des Raums spannt. Antonio De Matteis hat im vorderen Drittel Platz genommen, der engste Teil der Familie direkt neben ihm. Nur vor ihm steht eine Flasche Rotwein. Alle anderen trinken Wasser. Es gibt Linsen, dann Tagliatelle und als Hauptgang Fisch oder Würstchen. Keine Frage, dass der Gast aus Deutschland Würstchen bekommt. Man redet über Fußball. Prognosen über das abendliche Spiel zwischen Lazio Rom und AC Florenz werden gegeben. Reisen besprochen, Witze gemacht. Die Szenerie gleicht einer Adaption von Leonardo Da Vincis Abendmal – gehüllt in handgenähte Anzüge und Kostümeaus feinster Kaschmirwolle. Auch hier fallen die Brotkrümel nicht auf schnöde Fliesen, sondern sie landen auf weißem Carrara- Marmor.

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Obwohl heute vor allem Mailand mit dem modernen italienischen Anzug verbunden wird: Lange bevor Giorgio Armani die überflüssigen Schulterpolster entfernte, haben die neapolitanischen Schneider im 19. Jahrhundert mit dünnen Stoffeinlagen die Schultern zum Fließen gebracht. Die Schulter ist bis heute der kniffligste Teil eines jeden Sakkos. Und wenn es eine Hierarchie unter den Kiton-Schneidern gibt, dann tragen die Herren der Schulternähte die unangefochtene Krone in dieser Fabrik der stofflichen Wunder. Rund 25 Arbeitsstunden fließen in die Fertigung eines Anzugs, von denen 80 bis 90 Exemplare am Tag in alle Teile der Welt geliefert werden. „Der Unterschied zwischen Kiton und anderen Marken ist, dass wir nie über Luxus reden. Wir reden immer nur über Qualität“, sagt Antonio De Matteis. Und die wird von einer zunehmend jüngeren Zielgruppe ins Auge gefasst. Zählten die Kiton-Kunden früher zur Generation 50-plus, gehören nun immer mehr 30- und 40-jährige zu den Käufern. „Wir bemerken das vor allem bei den Größen. Viele Anzüge werden in 48 und 46, manchmal auch 44 verkauft.

Das ist ein gutes Zeichen, weil eine neue Generation von Kunden bereit ist, für Qualität mehr Geld auszugeben“, erklärt Antonio De Matteis. 2014 sind die Umsätze um fünf Prozent auf 110Millionen Euro gestiegen. Nach den USA, wo Kiton mehr als ein Fünftel seines Gesamtumsatzes erzielt, zählen Italien, China und Deutschland zu den wichtigen Märkten. Understatement ist für Kiton der Schlüssel zum Erfolg. „Mein Onkel wollte ein Produkt, das die Kunden für sich selbst tragen und nicht, um andere damit zu beeindrucken“, sagt Antonio De Matteis.

Einen Extremfall dieser Haltung markieren die Anzüge aus ultrafeiner Vicuña-Wolle, die fünfmal teuerer ist als die beste Kaschmir-Qualität. Zwischen 20.000 und 40.000 Euro kosten die Anzüge, von denen im Jahr rund 500 Stück bei Kiton angefertigt werden. „Man sieht den Unterschied nicht. Nur wenn man den Stoff berührt, erkennt man die Qualität“, betont Antonio De Matteis, der Logos für größte Modesünde hält. Auch er gehört zum Team, das die neuen Kollektionen entwickelt. Eine wichtige Rolle spielt für ihn der Austausch mit den Kunden. „Wir hören ihnen zu, was sie brauchen und wonach sie suchen. Auf diese Weise beginnen wir, über eine neue Kollektionen nachzudenken“, beschreibt Antonio De Matteis den Entwicklungsprozess.

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Einen Schritt nach vorne bedeutete die Übernahme der früheren Gianfranco-Ferré-Zentrale in Mailand, die Anfang 2014 als neue Kiton-Repräsentanz eröffnet wurde. Es ist kein Showroom im klassischen Sinne. Kunstwerke von Mimmo Paladino, Luca Del Pezzo und Manilo Giarrizzo aus Ciro Paones Privatsammlung bespielen die Wände, während kostbare Möbel den Eindruck eines Salons vermitteln. „Wir wollen hier dieselbe Atmosphäre erzeugen wie in unserer Zentrale in Neapel. Die Kunden sollen sehen, wie die Schneider, Schuhmacher und Hemdenmacher arbeiten und ihre Wünsche umsetzen können“, sagt Antonio De Matteis. Die Präsenz in Mailand soll zugleich einen stärkeren Schwerpunkt auf die Damenkollektion setzen, die jährlich um 20 Prozent wächst. „Auch wenn Damenmode heute nur zehn Prozent des Umsatzes ausmacht, kann sie in zehn Jahren vielleicht schon die Hälfte einnehmen“, gibt sich Antonio De Matteis optimistisch. Mit motivierten Mitarbeitern und einer eigenen Schneiderschule im Rücken steht diesen Plänen gewiss nichts entgegen.

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